Eine zweifelhafte Diagnose mit einer fast epidemieartigen Zunahme ist heute in aller Munde: die Diagnose 'ADHS' (Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung). Es kursieren Zahlen, dass 10 bis 15 Prozent aller Kinder diese Diagnose haben könnten und dass mit einer medikamentösen Behandlung eine schnelle und vor allem auch effiziente Verbesserung der Symptomatik zur Verfügung stünde. Ritalin wird fast durchgängig als das Mittel der Wahl empfohlen. Folge: Die Zunahme der Ritalinverschreibung ist exorbitant! So stellt das Bundesamt für Gesundheit für die Schweiz eine Zunahme von 690% innerhalb von vier Jahren fest. In anderen Ländern ist die Zunahme nicht geringer. Weltweit schätzt man, werden 80 Millionen Kinder mit Ritalin behandelt.
Ohne zweifelnde Besorgnis ob dieser erschreckenden
Zunahme zu erregen, wurden Behauptungen - die Ursache
der ADHS sei eine genetisch bedingte, chronische
Krankheit, die nicht heilbar sei - aufgestellt und
mit medialer Übermacht fest in das öffentliche
Bewusstsein verankert. So haben Kritiker dieser
biologistisch orientierten Position einen schweren
Stand; ihnen wird Unverstand oder mangelnde Kenntnis
der 'Faktenlage' nachgesagt!
Obwohl es KEINE wissenschaftlichen Belege für
die genetische Bedingtheit dieser Symptomatik gibt,
ist diese Behauptung auf allen Ebenen zu hören
und zu lesen: Fachleute wie Laien, Eltern, Lehrer,
Pädagogen, Psychologen, Kinderärzte haben
diesen Erklärungsansatz - mit wenigen Gegenstimmen
- zum Allgemeingut erklärt, ohne sich über
dessen Richtigkeit genau zu informieren! So wurde
aus einer propagierten Behauptung ein geglaubtes
'Wissen', das heute das öffentliche Bewusstsein
beherrscht. Die Heftigkeit, mit der die Debatte
um die Ätiologie dieser Symptomatik geführt
wird, scheint diese Vermutung zu bestätigen!
Und obwohl es bislang KEIN einziges Verfahren gibt,
mit dem eine objektive Unterscheidung (mit naturwissenschaftlichen
Methoden) zwischen einem sog. hirnstoffwechselgestörten
ADHS-Kind und einem nicht hirnstoffwechselgestörten
Kind gibt, erfreut sich die Meinung - ADHS sei eine
hirnorganische Stoffwechselstörung - grosser
Beliebtheit. Mit dem Modell einer (pseudo)wissenschaftlichen
Legitimation - es bestehe ein Neurotransmittermangel
- ist in idealer Weise ein Erklärungsansatz
kindlichen Fehlverhaltens gefunden worden, der auch
den letzten Skeptiker zum Schweigen bringt und davon
zu überzeugen vermag, dass eine Vorenthaltung
einer medikamentösen Behandlung bedeuten würde,
dem Kind ,Normalität' zu verweigern, dem Kind
das Anrecht auf eine ,normale' Entwicklung zu verunmöglichen!
Auf die Frage jedoch, was eigentlich ein 'normales'
Verhalten1 des Kindes sei, lassen sich
die Protagonisten dieses Krankheitsverständnisses
nicht ein, denn normal ist in deren Verständnis
das, was als Verhalten des Kindes dann entsteht,
nachdem das Medikament verabreicht worden ist! So
ist der Glaube an eine Stoffwechselstörung
bereits dergestalt zum Allgemeingut geworden, dass
bereits der 9 ½ jährige Sven, auf die
Frage, warum er beim Psychologen sei, mit dem Gestus
des Wissenden antwortet: "Weil ich im Gehirn einen
Schaden habe, weil in meinem Gehirn etwas nicht
richtig funktioniert!" Und das Kind glaubt dies!
Die Diskussion um die Behandlung dieser Symptomatik
ist so einseitig (genetisch Bedingung/ Hirnstoffwechselstörung/
Medikation) in das öffentliche Bewusstsein
implementiert worden, dass andere wissenschaftliche
Erklärungsansätze (psychologische, entwicklungspsychologische,
bindungstheoretische, tiefenpsychologische, psychodynamische)
in der gesamten Auseinandersetzung fast nicht mehr
anzutreffen sind. Psychologische Erklärungsansätze,
die von einer komplexen, sich entwickelnden emotionalen
Innenwelt des Kindes ausgehen, die nicht zwangsläufig
linear in ein 'normales' Verhalten münden muss,
wurden zu Gunsten eines biologistisch orientierten
Denkens an den Rand der Diskussion gedrängt,
so dass diese - trotz der über 100jährigen
Wissenschaftsgeschichte - nicht mehr als ernst zu
nehmende Erklärungsansätze gehört
werden!
Aus diesem Grunde möchte diese Website dem
geneigten Leser gedankliche Anregungen aus einer
psychologischen Perspektive geben, die sich explizit
gegen eine Biologisierung (Verhaltensstörung
als hirnorganische Störung) und damit einer
Reduzierung menschlichen Fühlens, Denkens und
Handelns wendet.
So steht im Mittelpunkt dieser psychologischen Betrachtung
das Kind in seiner Entwicklung als ein WERDENDES,
als ein zum Erwachsenen sich hin-entwickelndes Wesen.
Innerhalb der Entwicklung kann es immer auch Fehlhaltungen-
und Leistungen aufbauen, die aber auf KEINEN Fall
als Krankheit einzuordnen sind! Kinder haben erst
einmal JEDES Anrecht darauf, Fehler in der Entwicklung
zu machen, auf die in einem emotional fürsorglichen
und rahmenspendenden Umfeld auch korrigierend eingegangen
werden muss. Aber das soziale Umfeld steht auch
immer vor der Aufgabe, das Kind in seinem PERSON
SEIN einfühlsam zu verstehen und auf dem komplexen
Weg seines WERDENS zu begleiten.
Darüber hinaus ermöglicht erst eine psychologische
Betrachtungsweise die Möglichkeit, sich mit
der notwendigen - auch gesellschaftlich relevanten
Frage - auseinanderzusetzen, ob die allseits beklagte
epidemische Zunahme von kindlichen Auffälligkeiten
nicht möglicherweise die Nöte von Kindern
in Zeiten postmoderner Umstände signalisiert.
Dr. J. Schmid
1) Zur Frage des sog. normalen
Verhaltens finden Sie auf dieser Homepage gesonderte
Ausführungen!